Anarchismus wie vor 100 Jahren kann mensch sich auch sparen – Ein Aufruf zur kritischen Intervention bei der anarchistischen 1. Mai-Demo in Dortmund

Eigentlich wollten wir nie direkt öffentlich Kritik üben, sondern hatten gehofft, jene Punkte (wie Sichtbarkeit von Trans, Inter, Nichtbinären und Agendern, gute Kapitalismus- und Staatskritik, einer aktuelles, nicht-identitäres Klassenverständnis und Bewusstsein über die eigene koloniale Rolle), die uns bezüglich des Aufrufs zum anarchistischen ersten Mai in Dortmund wichtig sind, bzw. die fehlen, in Form einer Rede auf der Demonstration anbringen zu können. Wir wollten positiv darauf hinweisen, worauf Anarchist*innen bei ihren Analysen achten sollten und in welche gefährlichen Richtungen sich der Anarchismus sonst bewegen kann. Dabei wollten wir weder die Orga des 1ten Mai, noch den Aufruf direkt benennen, weil es uns vor allem um Kritik an den Inhalten geht, nicht wer sie äußert. Die Organisator*innen des anarchistischen 1. Mai möchten dies aber nicht und zwingen uns damit öffentlich Stellung zu ihrem Aufruf und den teils sehr problematischen Vorstellungen in ihm zu nehmen. Wir finden dies traurig, unsolidarisch, ausschließend und unnötig eskalativ.

Der anarchistische 1. Mai in Dortmund – die Vorgeschichte

Seit 2015 gibt es in Dortmund eine anarchistische 1.-Mai-Demo. Von Beginn an haben wir sie als Schwarze Ruhr-Uni jedes Jahr beworben, oft auch Anreisetreffpunkte organisiert. In einzelnen Jahren haben wir bei der Küfa (Küche für Alle: Veganes Essen gegen Spende) mitgeholfen oder dort Reden gehalten. Die Demo und der gemeinsame Ausklang danach waren immer ein bunter Austausch und ein Zusammenkommen, das die Vielfalt und Stärke der anarchistischen Bewegung im Ruhrgebiet bzw. in NRW gezeigt hat. Nun werden Teile der anarchistischen Bewegungen ausgeschlossen.

Cis-Anarchismus und Cis-Feminismus

In unserer Gruppe sind schon länger viele Trans- und Nichtbinäre Menschen organisiert. Deshalb sind uns deren Sichtbarkeit und Themen, die sie betreffen, sehr wichtig. Als erstes ist uns daher an dem Aufruf die Sprache aufgefallen, in der von Frauen und nicht von FLINTA* (Frauen, Lesben, Inter, Trans, Nichtbinäre, Agender*) die Rede ist. Transmenschen werden ganz kurz mal am Rande bei LGBTQ* miterwähnt, Interpersonen, werden (nach unser Kritik) einmal bei LGBTIQA* am Rande erwähnt, ansonsten ist es einfach nur LGBTQ (weil es anscheint nicht wichtig ist – Stand 19. April) und Nichtbinäre kommen gar nicht vor. Trans, Inter, Nichtbinär und Agender sind übrigens eigentlich (in der Regel) keine sexuellen Orientierungen.
Wir denken, das „Übersehen/Übergehen“ von Trans, Inter, und Nicht-Binären und Agender  ist kein unabsichtlicher Fehler, sondern entspricht der klaren Ausrichtung einiger der Organisator*innen. Das zeigt sich auch an dem Aufruf der Gruppe Fem:in Ruhr, die den „feministischen Block“ organisiert, der sprachlich Nichtbinäre, Interpersonen und viele Transpersonen ausschließt, obwohl Anderes eigentlich Standart bei vielen feministischen Gruppen ist: „Wir Arbeiterinnen, Mütter und Freundinnen sind es, die in der Krise den Laden am Laufen halten und die die Macht haben, das System zu verändern.“ (Viele) Trans, Inter, und Nichtbinäre und Agender haben den Laden anscheint nicht mit am Laufen gehalten, sondern waren einfach faul.
Ein Person aus dem Orgateam des 1. Mai ist in der Vergangenheit auch öfter durch transfeindliche Äußerungen und verbale Übergriffe aufgefallen, zuletzt kurz nach der Hausbesetzung durch die Transfläche 2021. Diese Person wird wahrscheinlich am 1. Mai eine Rede halten, während es nicht-binären Menschen aus unserer Gruppe untersagt wurde.
Wir rufen auf, die Demo am 1. Mai nicht solchen Menschen zu überlassen und Reden, in denen auf Trans-, Inter- und nichtbinären Menschen nicht eingegangen wird, inhaltlich vor Ort zu kommentieren.

Identitäres Klassenkampfrollenspiel

Der gesamte Aufruf strotzt nur so von einem identitären Bezug auf Arbeit und Arbeiter*innen-Sein. Hier ein Beispiel: „Es sind wir – die Arbeiter*innen – die diese Gesellschaft am Laufen halten. Wir produzieren Waren und Dienstleistungen, kümmern uns um unsere Familien, arbeiten in Verwaltungen usw.“ – Studierende, Erwerbslose, Schüler*innen, Menschen, die nicht arbeiten können oder wollen werden hier in keinster Weise mit erwähnt. Das ist nicht nur inhaltlich ziemlich schlecht, es schreckt auch Menschen ab, weil es heutzutage vielen nicht mehr verständlich ist, denn ein Selbstverständnis als Arbeiter*innen, wie es früher gab, gibt es nicht mehr. Wir hätten „Lohn- und Leistungsabhängige“ und vielleicht noch „Arme“ geschrieben.
An dieser Stelle eine Klarstellung: Wir finden Klassenkampf und möglichst einfache Sprache sehr wichtig. Klassenkampf und die Ansprache von Menschen in den unteren gesellschaftlichen Klassen kann aber nicht genauso stattfinden wie vor 100 Jahren. Die Gesellschafterstruktur in Europa, vor allem auf dem vom deutschen Staat beanspruchten Gebiet, hat sich massiv verändert. Die gesellschaftlichen Hierarchien sind viel feingliedriger geworden und anstatt einer relativ einheitlichen Arbeiter*innenklasse, die zumindest teilweise in Masse sehr ähnliche Lebens- und Arbeitsbedienungen hatte, gibt es heute viel mehr Unterschiede zwischen Lohnabhängigen. Arbeiter*innen bei Tönnies, wissenschaftliche Mitarbeiter*innen an der Uni oder in Büros oder Sozialarbeiter*innen haben nicht die gleichen Lebens- und Arbeitsbedienungen. Das hatte sich auch gerade während Corona gezeigt als ein Großteil der Linken, welche durch ihre Positionen privilegiert waren, sich auf Seiten des Staates und seiner autoritären Coronapolitik gestellt hat. Klassenkampf hieße genau diese Privilegien solidarisch aufzugeben und anzugreifen, statt ein Bild einer einheitlichen „Arbeiter*innenklasse“ zu zeichnen.
Außerdem sind alle wichtigen anarchistischen Revolutionen des 20. Jahrhundert entweder teilweise oder fast ausschließlich auch von Kleinbäuer*innen, nicht den städtischen Lohnabhängigen ausgegangen. Außerhalb von Europa kommt der Jahrhunderte lange Widerstand von Indigenen gegen Staat und Kapitalismus hinzu, der sich der europäischen Vorstellung von Arbeit als positiv widersetztet und der bestimmt nicht die „Selbstverwaltung der Betriebe durch die Arbeiter*innen“ als zentrale Forderung hatte. Ohne deren Kampf und Gesellschaftsmodelle wäre der Anarchismus nie entstanden.
Es gibt und gab nie ein „revolutionäres Subjekt“, dessen (reines) Interesse in der Revolution bestand, diese Vorstellung hat gerade anarchistische Theorie nach dem 2ten Weltkrieg zum Glück aufgeben. Aber die Organisator*innen scheinen dort stehen geblieben zu sein.

Verkürzte Kapitalismuskritik und keine Staatskritik

Das zeigt sich auch an der verkürzen Kapitalismuskritik des Aufrufs und der fast vollständig fehlenden Staatskritik (eigentlich waren auch beide vor 100 Jahren schon besser).
Verkürzt ist die Kapitalismuskritik, weil sie den Kapitalismus als das Hauptübel beschreibt, der Staat wird fast gar nicht erwähnt. Diese Logik, die Ursache aller Probleme im Kapitalismus und Kapitalist*innen zu suchen, beinhaltet Muster, die sich in rechten Verschwörungstheorien und antisemitischen Weltbildern finden – einer einzigen Institution und Gruppe wird zugeschrieben, die Ursache unserer Probleme zu sein. Und gerade antisemitische Gewalt bestand oft in verkürzter Ablehnung eines (vermeidlichen) Teils der Eliten. Gegen Juden*Jüdinnen¹, denen zugeschrieben wurde, Teil der Handels, Finanz- und Steuerelite zu sein, wurde dann Gewalt ausgeübt, nicht gegen den Staat. So dient auch allgemein der verkürzte, ausschließliche Fokus auf den Kapitalismus dem Staat als Mittel, Unmut gegen sich (menschenfeindlich) umzulenken. Auch deshalb muss immer der Staat als gleichwertiger Feind erwähnt und zumindest mit benannt werden, wenn es um Kapitalismuskritik geht (Menschen von uns hatten die Orga des 1. Mai anregt dies mit 1-2 Sätzen im Aufruf zu tun, es wurde abgelehnt).

Unser Aufruf: Für einen Anarchismus von heute nicht von vor 100 Jahren

Wir haben uns entschieden den anarchistischen 1. Mai nicht solchen schlechten bis gefährlichen Vorstellungen und Inhalten zu überlassen und rufen auf sich kritisch an der Demo zu beteiligen. Möglichkeiten hierzu sind Schilder, die klarmachen, dass Terfs, verkürzte Kapitalismuskritik und koloniale Vorstellungen in unserer Bewegungen nichts zu suchen haben, Parolen (auch bei Reden) oder Transparente. Wir werden diesen Text in gekürzter Form verteilen und freuen uns über unsere Kritik in Austausch und Gespräch zu kommen.
Aus Bochum wird es einen Anreise-Treffpunkt um 14.45 auf der Vorderseite des Hauptbahnhofs geben. Wir reisen dann vorausichtlich zusammen mit der FAU an.
Für einen aktuellen, klassenkämpferischen und undogmatischen Anarchismus! Gegen Staat, Kapitalismus, Patriarchat und Kolonialismus! Heraus zum 1. Mai!
Wer mit uns in Kontakt treten möchte kann dies per Mail an schwarze-ruhr-uni@riseup.net tun.
Wir freuen uns über alle Menschen mit Interesse an aktueller anarchistische Theorie und Praxis.

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5 Responses to Anarchismus wie vor 100 Jahren kann mensch sich auch sparen – Ein Aufruf zur kritischen Intervention bei der anarchistischen 1. Mai-Demo in Dortmund

  1. schwarzerub says:

    Es Staat, Patriarchat,Kolonialismus/Weiß-Sein/Rassismus sind genauso große Übel.
    Eine Kapitalismusanalysevon uns findet u.a. hier: https://kolektiva.media/w/joPaQ2xZbCiop3J1uouh7v

  2. schwarzerub says:

    Staat, Patriarchat,Kolonialismus/Weiß-Sein/Rassismus sind genauso große Übel.
    Eine Kapitalismusanalysevon uns findet u.a. hier: https://kolektiva.media/w/joPaQ2xZbCiop3J1uouh7v

  3. Norm. 404 says:

    Sehr geehrtes Schwarze Ruhr Uni Team, Gruppe, Orga… Usw. Was auch immer
    Bezüglich der verkürzten Kapitalismus bzw. Staatskritik. Der Kapitalismus ist das größte Übel, welches auf der Erde exestiert. Ich bin der selben Meinung, daß es kein Schauplatz für Rechte Idiologien oder Überzeugungen seien soll. Lasst Ihr ein/das größte Problem in einer Nische behandeln, aufgrund Rechtsextremismus. Haben die Rechten doch schon gewonnen. Kapitulation ist die Falsch Antwort. Der Kapitalismus ist kein Übel mit ausländischen Wurzeln, es wird nur gerne als solches dargestellt. Vermögensverteilung, Renten, Mindestlohn, Sozialeabsicherung. Das Urdeutsche Problem, welche von Urdeutschen Personen ignoriert und beworben wurden. Resignation kann und darf nicht die Antwort auf geistige Isulation und lernbezogener Hypochondie sein. Peace

  4. schwarzerub says:

    Dass du in deiner „Kritik“ Kinder versuchst uns durch den Vergeleich mit Kindern abzuwerten zeigt u.a. genau wie wichtig unsere Reaktion auf problematisch Inhalte in der Bewegung ist.
    „Als hätten wir keine anderen Probleme“ – ja hast du als vermutlich Cis-Person wahrscheinlich nicht, wir von denen viele Nicht-Binär oder Trans sind, schon. Aber Solidarität und so…

  5. Anarch@ says:

    Wow, selten so ein autoritär-dogmatisches Pamphlet gelesen, dessen Verfasser*innen sich auch noch „anarchistisch“ schimpfen. Packt eure oberflächlichen Twitter-Feindbilder doch bitte wieder weg und hört auf so verzweifelt mit Scheisse um euch zu werfen. Das ist einfach erbärmlich.
    Der ganze Text liest sich wie ein einziges „mimimi, die machen ja gar nicht was wir von ihnen verlangen und jetzt biegen wir uns was zurecht um allen zu Zeigen wie Böse die sind“
    Verdammter Kindergarten, als hätten wir keine anderen Probleme

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